Im Gespräch mit Dr. phil. Dr. med. Gabriele Stotz-Ingenlath

Von allen guten Geistern verlassen?

Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie

Es ist viel los in der Ambulanz am Gendarmenmarkt: Patienten kommen mit Fragen zum Empfang, vereinbaren neue Termine oder sind zur Blutabnahme im Labor. Im Zimmer von Dr. Gabriele Stotz-Ingenlath ist vom Trubel auf den Fluren wenig zu spüren. Mit aufmerksamen Blick und angenehmer Ruhe gibt die Psychiaterin und Philosophin Einblick in eines ihrer Fachgebiete: Spiritualität und Religiosität in Psychiatrie und Psychotherapie. Ein Thema, das gerade in Zeiten der Pluralisierung der Glaubensüberzeugungen immer wichtiger wird. Warum sie Spiritualität für eine Grundkonstante des Menschen hält und wie moderne Psychotherapie damit umgehen soll, erklärt Dr. Gabriele Stotz-Ingenlath im Interview mit Katharina Hajek.

Der Begriff der Spiritualität ist ziemlich weit gefasst. Wie kann man ihn am besten erklären?

Es gibt unzählig viele  Definitionen. Der Begriff Spiritualität kommt aus dem Lateinischen: „spiritus“ bedeutet „Geist“. Damit meint Spiritualität im weitesten Sinne das „Leben aus dem Geist“, einen Bereich also, der sich auf die nicht-materielle Seite des Menschen bezieht. Ich glaube, dass Spiritualität eine spezifisch menschliche Grundkonstante ist und dass jeder Mensch tief in seinem Innern das Bedürfnis und die Sehnsucht nach etwas bzw. nach Verbundenheit mit etwas hat, das über das eigene Ich hinausgeht, das eigene Ich umgibt und übersteigt („transzendiert“ von trans-cendere: über-steigen),

Und wo liegt der Unterschied zur Religion?

Beide Begriffe haben gemeinsam, dass sie sich auf eine Dimension beziehen, in der sich der Mensch *transzendiert. Zur Abgrenzung beider Begriffe voneinander gibt es unterschiedliche Auffassungen. Ganz grundsätzlich kann man sagen, dass zur Religiosität eine Gemeinschaft gehört, in der Rituale, Glaubensformen oder auch ein genereller Verhaltens-Codex festgelegt  sind. Dadurch ist Religion auch normativer – jemand, der sich „nur“ als spirituell bezeichnet, ist dabei vorwiegend  einem individuellen Erfahren verpflichtet; er kann  sich aus verschiedenen Kulten und Formen auch jeweils etwas auswählen. In diesem Sinne ist Spiritualität ein „Container-Begriff“, der neben Religion auch andere Formen des Transzendenzbezugs umfasst. .

Warum ist Spiritualität für Sie ein Thema in der Medizin?

Abgesehen von der aktuellen Bestrebung unserer Arbeitsgruppe*, das Thema gegenwärtig besser zu fassen, ist Spiritualität ein uraltes Thema in unserem Fachbereich. Medizin war früher Tempelmedizin, die Heilmethoden waren verknüpft mit religiösen Ritualen. In der Psychiatrie erleben die Menschen erschütternde Grenzsituationen, die eine Deutung herausfordern. Hölderlin sagt einmal in einem Gedicht: „Was hier wir  sind, wird dort ein  Gott  ergänzen“. Nicht umsonst hat der Begriff „Heilung“ einen engen Bezug zum Begriff „heil“, d.h. auch „ganz“: In Krisen und Grenzsituationen spürt man die eigenen Schwächen und  Mängel und dass man nicht „heil“ ist. Das Gefühl, eine höhere Macht werde diese Schwäche ausgleichen, ich bin nur ein Teil des Ganzen, war schon immer eine stärkende Komponente – für gläubige Menschen.

Ist das denn noch zeitgemäß – nach Kirchenaustritten und der Abwendung vom klassischen Religionsverständnis?

Die Bedeutung von und die Gebundenheit an Religion hat zwar abgenommen, gleichzeitig beobachten wir einen Lebenshilfe-Boom. Dahinter kann man auch einen Kompensationsmechanismus vermuten: Wenn die Verpflichtung gegenüber einer kodifizierten Religion und damit auch das Gefühl von Heimat oder Geborgenheit abnimmt, dann muss das Bedürfnis nach Spiritualität anderweitig gestillt werden. Im Missbrauch dieser entstehenden Freistelle liegt im Übrigen auch einer von mehreren möglichen Gründen für Radikalisierung. Auch in manchen „sogenannten“ Psychotherapien  werden Heilsversprechungen und neue Ordnungsangebote gemacht, die diese Leerstelle  füllen sollen.

Wo liegt die Verbindung zur Psychiatrie und Psychotherapie?

Psychiatrie und Psychotherapie spiegeln Teile dieser Entwicklung. Als „Seelenheilkunde“ lösen sie heute die Seelsorge ab. Gerade in Krisensituationen suchen Menschen Halt, Erklärungen, Trost – auch in spiritueller Hinsicht. In der modernen Verhaltenstherapie z.B. versucht man dem menschlichen Bedürfnis nach „mehr“ durch Achtsamkeitsmethoden Meditation und bewusster Bezugnahme auf Wert- und Sinnfragen gerecht zu werden. . An dieser Stelle liegen Spiritualität und das Gefühl von Heilung bzw. „Heil-sein“  nah bei einander. Hier liegt aber auch genau die Gefahr für einen Missbrauch durch ideologische oder im negativen Sinn esoterische Praktiken – u.a. deshalb haben wir unsere Arbeitsgruppe gegründet.

Sie sprechen sich nicht für ein Verbot von Spiritualität in der Psychiatrie und Psychotherapie aus, wie Ihre Kollegen aus Österreich*. Welchen Umgang mit Spiritualität raten Sie in Ihrem Positionspapier?

Wir raten den  Fachkollegen, in der Therapie von spirituellen Interventionen abzusehen und klar beim etablierten Methodenspektrum ihres Berufes zu bleiben. Bei der  Anamnese-Erhebung und Diagnosestellung gehört diese Perspektive auf die Spiritualität des Patienten  aber in jedem Fall dazu – vor allem auch in interkultureller Hinsicht. Wenn es dem Menschen gut geht, dann ist Spiritualität oft kein (wesentliches) Thema. Wenn eine Krisensituation auftritt, in der die Alltagsfassade bröckelt, ändert sich das häufig. In unserer Arbeit begegnen wir Menschen in genau diesen Grenzsituationen, die oft an einem Tiefpunkt ihres Lebens oder ihres Selbst gestoßen sind. Wenn wir die Patienten dann nach ihrer persönlichen Einschätzung der Situation fragen, ist das immer auch eine Weltanschauungsfrage: Sehen sie  es als Schicksal, Zufall oder (göttliche) Fügung an, dass es zu dieser Situation gekommen ist? Wir selber als therapeutisches Gegenüber sollten dabei weltanschaulich neutral bleiben, keine eigenen Deutungen „beisteuern“ und die jeweilige Sicht einfach akzeptieren.

Ist das an sich nicht schon eine spirituelle Frage?

Es ist wissenschaftlich und im therapeutischen Setting nicht einfach, über dieses Thema zu sprechen. Es gibt ja auch keine allgemeingültige be-grenzende De-finition  des Un-begrenzten, Un-endlichen. Auch lässt sich sicher nicht alles transparent machen, was tief innen liegende weltanschauliche Grundüberzeugungen betrifft. Und dennoch ist es hilfreich, ja sogar notwendig, danach zu fragen, um zu verstehen, wie die Erkrankung individuell verortet wird und wo mögliche Lösungen ansetzen können. Die Frage nach der Spiritualität des Einzelnen ist besonders in einer pluralistischen und multikulturellen Gesellschaft wesentlich. Als Psychiaterin habe ich heute oft auch Menschen mit anderen Wurzeln vor mir, in deren Weltanschauung der Glaube eine viel größere Rolle spielt. Dafür müssen wir viel sensibler werden und unsere interkulturelle Kompetenz schulen.

Wie gehen Sie damit um, wenn Sie in der Therapie Hardlinern oder Fundamentalisten begegnen?

Ich begegne jedem Menschen unabhängig von Religion und Gesinnung gleich. als Psychiaterin, die kultur- und religionssensibel auch zum Perspektivenwechsel fähig sein muss.. Das heißt, ich begleite ihn in seinem seelischen Leid mit den mir professionell zur Verfügung stehenden therapeutischen Mitteln und Kenntnissen. Wenn ich wahrnehme, dass das Thema Religion oder Spiritualität sehr bedeutungsvoll ist und den Umgang mit der Krankheit beeinflusst, dann verweise ich  für diesen Bereich an einen Seelsorger seiner Religion. Dieser kann bei der Abgrenzung zwischen Religion und Krankheit helfen. Wann hat  jemand einen religiösen Wahn oder einen skrupulösen Zwang , wann steht er vielleicht nur in einem sehr engen Verhältnis zu seinem Gott? Religiosität und Spiritualität können in der Psychiatrie sowohl Ressource sein als auch die Behandlung erschweren oder Teil des Problems sein (wie z.B: beim religiösen Wahn oder zwanghaften Skrupeln oder der Ablehnung eines naturwissenschaftlichen Krankheitskonzeptes). Grenz- und Regelverletzungen z.B. aus religiösem Fanatismus brauche ich allerdings nicht zu dulden, sondern kann mich auf Behandlungsregeln  berufen.

Welchen Bezug haben Sie als Psychiaterin zu Ihrer eigenen Spiritualität?

Ich bin gläubige Katholikin und mache daraus kein Geheimnis, wenn ich gefragt werde. Für meine berufliche Tätigkeit sollte meine Konfession jedoch keine Rolle spielen. Wir Behandler sollten unsere eigene Grundhaltung kennen und Wechselwirkungen bzw. „Passungen“ mit Patienten reflektieren können. Es gibt z.B. Patienten, die aus dem Grund zu mir kommen – weil es für sie wichtig ist, eine Ärztin zu haben, die ihren Glauben innerlich versteht. Meine Arbeit als Psychiaterin trenne ich aber ganz klar von meiner religiösen Gesinnung und kommuniziere das auch so: ‚Ich bin auch katholisch, aber jetzt geht es um eine Krankheit, die ich nach den Regeln ärztlicher Kunst  unabhängig unserer beider religiöser Anschauungen behandle.

Zur Person

Dr. phil. Dr. med. Gabriele Stotz-Ingenlath

Gabriele Stotz-Ingenlath hat Medizin und Philosophie in Bochum, Boston, Cambridge und München studiert. Sie promovierte an der Ruhr Universität Bochum (Philosophie) und dem Max-Planck-Insittut für Psychiatrie an der Technischen Universität München (Medizin). In München und Zürich schloss sie ihre Facharztausbildung im Bereich Psychiatrie und Psychotherapie. Als Regionalarzt der Deutschen Botschaft und Mitarbeiterin im Serbski-Institut für forensische Psychiatrie verbrachte sie drei Jahre in Moskau. Seit 2006 lebt und arbeitet die Ärztin in Berlin, 2010 begann sie ihre Tätigkeit in der Ambulanz der Fliedner Klinik Berlin. Sie ist stellvertretende Referatsleiterin des Referats "Spiritualität und Psychiatrie" (DGPPN) sowie Mitglied im Bundesverband Deutscher Schriftstellerärzte.