Einsamkeiten – die vielen Facetten eines Gefühls
 

Nicht immer verbinden wir mit dem Alleinsein negative Gefühle: Alleine spazieren gehen ist erholsam, einen Moment lang „für sich“ sein erdet uns und jemand, der „bei sich“ ist, geht kraftvoll und zentriert durchs Leben. Erst, wenn sich Einsamkeit einstellt – ein im Gegensatz zum Alleinsein nicht frei gewählter Zustand – wird soziale Isolation psychisch belastend.

Wie vielfältig die Facetten der Einsamkeit sein können, zeigt Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie Deutschland, in seinem aktuellen Buch „Für sich sein. Ein Atlas der Einsamkeiten“, das er zusammen mit dem Kulturbeauftragten des Rates der evangelischen Kirche, Johann Claussen, veröffentlichte. In den Räumen der Berliner Stadtmission las er daraus und sprach mit Prof. Dr. Mazda Adli, Chefarzt der Fliedner Klinik Berlin, Janita-Maria Juvonen, die selbst von Obdachlosigkeit betroffen war und Dr. Christian Ceconi, Direktor und theologischer Vorstand der Berliner Stadtmission, über das Thema, das Menschen in unterschiedlichen Altersstufen und Lebensphasen betrifft.

Jeder scheint Einsamkeit zu kennen, und doch, so Lilie, ist sie ein noch „unerforschter Kontinent“. Das liege unter anderem daran, dass Einsamkeit ein sehr subjektives Empfinden mit großer Variationsbreite sei, das sich dementsprechend schwer messen ließe, erklärte Podiumsgast und Chefarzt der Fliedner Klinik Berlin, Prof. Dr. Mazda Adli an dem Abend.

Außerdem sei Einsamkeit noch immer ein Tabuthema, über das gar nicht oder nur ungern gesprochen werde. Selbst unter wohnungslosen Menschen herrsche Scham statt Solidarität, wie Janita-Maria Juvonen es beschreibt. Sie hat selbst einige Jahre auf der Straße gelebt und meistens versucht ihre Obdachlosigkeit zu verstecken. Selbst als sie nicht mehr wohnungslos war, verschwieg sie ihre vergangenen Erfahrungen vor neuen Bekanntschaften. Heute reist Juvonen durch Deutschland, hält Vorträge und gibt Workshops über Obdachlosigkeit.

Über Einsamkeit zu sprechen, könne für Betroffene sehr entlastend sein, so Prof. Dr. Mazda Adli. Zugleich stärke das Reden das Gemeinschaftsgefühl, das nicht zuletzt auch durch die Gestaltung von Städten begünstigt werden könne. Begegnungsorte und Kulturzentren wie Museen und Theater fördern den Kontakt. Besonders unvollkommene Orte, die wir noch mitgestalten können, Freiräume, die experimentelle Erfahrungen ermöglichen, wirken sozialer Isolation entgegen. Als „Kartografie der Einsamkeit“ zeigt auch Lilies Buch viele Wege der Befreiung aus der Einsamkeit und versteht sich als ein hilfreicher Kompass für alle, „die den Kontinent der Einsamkeit näher erkunden und sicher wieder verlassen wollen.“