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Zum Europäischen Tag der Depression am 1. Oktober:Antidepressiva verständlich erklärt

Antidepressiva helfen Millionen von Erkrankten, ziehen aber auch zahlreiche Kontroversen auf sich. Anlässlich des Europäischen Tages der Depression am 1. Oktober erklärt PD Dr. med. Mazda Adli, Chefarzt der Fliedner Klinik Berlin und Depressionsforscher an der Charité – Universitätsmedizin Berlin, wie Antidepressiva wirken, wer von ihnen profitieren kann und wie man das richtige Mittel auswählt.

Was sind eigentlich Antidepressiva und wie wirken sie?

Antidepressiva gibt es seit Ende der 1950er Jahre. Eigentlich ist es eine relativ junge Medikamentenklasse. Allen bisher auf dem Markt befindlichen Antidepressiva ist gemein, dass sie in den Botenstoffhaushalt eingreifen, die im Gehirn unsere Emotionen und unseren Antrieb regulieren. Ort des Geschehens ist vor allem der synaptische Spalt, also di.e Kontaktstelle zwischen zwei Nervenzellen. Zu diesen Botenstoffen gehören Serotonin, Noradrenalin oder Dopamin. Das sind Signalmoleküle, die zwischen den Milliarden von Nervenzellen im menschlichen Gehirn für den Informationsfluss sorgen. Je nach pharmakologischer Klasse, zu der ein Antidepressivum gehört führt es zu einer Signalverstärkung eines oder mehrerer dieser Botenstoffe. Zum Beispiel dadurch, dass es dasjenige Molekül an der Nervenzelle blockiert, dass dafür zuständig ist, den Botenstoff (nach seiner Freisetzung aus der Nervenzelle) aus dem synaptischen Spalt wieder aufzusaugen und damit unwirksam zu machen. Eine andere Möglichkeit ist, dass Antidepressiva direkt die Botenstoff-Rezeptoren an der nachgeschalteten Nervenzelle stimulieren und damit den Botenstoff in seiner Arbeit unterstützen.

Wir wissen mittlerweile, dass die Ursache von Depressionen nicht wirklich im synaptischen Spalt liegt, sondern viel weiter versteckt im Zellinneren. Mit den bisher verfügbaren Antidepressiva kommen wir allerdings bis heute nur bis an den synaptischen Spalt heran. Das ist vermutlich auch der Grund, warum die Wirkung von Antidepressiva nicht sofort einsetzt, sondern erst zwei bis vier Wochen nach Einnahme beginnt. Erst dann haben sich die nachgeschalteten Prozesse in der Zelle an die neue Situation angepasst und reagieren dann zum Beispiel mit einer verstärkten Produktion von Eiweißen, die die Plastizität von Nervenzellen verbessern.

Im Laufe der Jahrzehnte sind Antidepressiva immer verträglicher, jedoch nicht wirksamer geworden. Die modernen Antidepressiva sind so bereinigt, dass sie auf den Botenstoffhaushalt wirken, aber all die anderen Rezeptorsysteme weitgehend in Ruhe lassen, die bei alten Antidepressiva noch für häufige Nebenwirkungen (wie z.B. Mundtrockenheit oder Verstopfung) verantwortlich waren.

Wann braucht man Antidepressiva?

Wir haben in Deutschland seit 2009 eine nationale S3-Leitlinie zur Depressionsbehandlung. Sie gibt klare Empfehlungen auf der Grundlage von Erkenntnissen verfügbarer Studien und der Erfahrung vieler beteiligter Fachleute. Die Empfehlung hängt in erster Linie vom Schweregrad einer Depression ab. Bei einer leichten depressiven Episode ist eine abwartende Haltung und zunächst Aufklärung und Beratung bezüglich des Krankheitsbildes sowie - je nach psychologischer Problematik im Hintergrund - die Anbahnung einer Psychotherapie zu empfehlen. Antidepressiva kommen hier erst dann zum Einsatz wenn es – zum Beispiel aus der bisherigen Krankengeschichte – guten Grund gibt, von einem günstigen Ansprechen auf ein Arzneimittel auszugehen.

Bei einer mittelgradigen Depression behandeln wir entweder mit einer Psychotherapie oder mit einer Pharmakotherapie und kombinieren beide Strategien vor allem dann, wenn die alleinige Behandlung nicht ausreicht. Auch die Präferenzen des Patienten oder der Patientin fließen in diese Entscheidung  mit ein. Bei einer schweren depressiven Episode hingegen ist die Kombination von Antidepressiva und Psychotherapie von Anfang an zu empfehlen.

Sie merken schon: Ob und wann Antidepressiva zum Einsatz kommen sollten, hängt bei jedem Patienten von vielen individuellen Faktoren ab. Aber der  Entscheidungsprozess hierzu ist durch klare Kriterien geregelt. An diesem Punkt sollte man auch erwähnen: Keinesfalls sind Antidepressiva angebracht bei Lebenskonflikten oder Zuständen von anhaltender Unzufriedenheit im Leben, wenn nicht gleichzeitig eine depressive Erkrankung vorliegt. Antidepressiva sind und bleiben Arzneimittel, die für den Krankheitsfall und nicht für den Lifestyle vorgesehen sind.

Woher weiß ich, ob ich das richtige Antidepressivum bekomme?

Es gibt heute mehr als 40 verschiedene Antidepressiva auf dem Markt. Sie unterscheiden sich bezüglich ihrer pharmakologischen Wirkung. Diese betrifft die Botenstoffsysteme, auf die ein Antidepressivum einwirkt, aber auch die Rezeptoren, die dann z.B. auch für Nebenwirkungen verantwortlich sind. Einige Antidepressiva sind eher aktivierend und werden daher morgens eingenommen. Andere Antidepressiva sind eher beruhigend oder schlafanstoßend und werden daher vor dem Schlafengehen genommen. Je nachdem, ob Antriebsprobleme oder Schlafprobleme im Vordergrund stehen, können solche Symptome für die Wahl eines Antidepressivums entscheidend sein. Ob ein Antidepressivum nach der gebotenen Wartezeit wirkt, lässt sich bis heute jedoch nicht sicher voraussagen. Allerding gibt es hierzu sehr viele Forschungsbemühungen, bei denen zum Beispiel genetische Merkmale untersucht werden, die vielleicht ein gutes Ansprechen auf ein bestimmtes Mittel vorhersagen können. Bis es hierzu belastbare wissenschaftliche Ergebnisse gibt, gilt: Hat ein Antidepressivum in einer früheren depressive Episode schon einmal geholfen, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass es bei einer neuerlichen Depression wieder wirkt, relativ hoch.

Wie lange soll man ein Antidepressivum einnehmen?

Das kommt ganz auf den bisherigen Verlauf der Depression an. handelt es sich um eine erstmalige depressive Episode, dann sollte ein Antidepressivum nach Abklingen der depressiven Symptome über mindestens weitere sechs Monate hinaus eingenommen werden. Bei schwereren Verläufen auch bis zu einem Jahr. Liegt eine wiederkehrende Depression vor und ist es in den letzten fünf Jahren bereits zu einer depressiven Episode gekommen, dann sollte ein Antidepressivum sogar über längere Zeit zur Rückfallprophylaxe eingenommen werden. Als Faustregel gilt hier eine Dauer von etwa zwei Jahren. Bei schwereren Verläufen oder bei einer ausgeprägten Rückfallneigung werden aber auch durchaus längere Einnahmedauern empfohlen.

Machen Antidepressiva abhängig?

Klare Antwort: Nein. Antidepressiva machen nicht süchtig. Im Gegenteil: Sie helfen oft genug gegen Suchterkrankungen, die z.B. begleitend zu einer Depression auftreten können. Das passiert nicht selten, wenn  Betroffene versuchen, Symptome der Depression mit Alkohol oder suchterzeugenden Beruhigungsmitteln zu bekämpfen.

 

 

 

Zur Person:

PD Dr. med. Mazda Adli ist Chefarzt der Fliedner Klinik Berlin, Leiter der AG Affektive Störungen an der Charité-Universitätsmedizin Berlin, CCM und Gründer des Fachgebietes Neurourbanistik. Mehr unter www.mazda-adli.de