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KULTUR FÜR DIE SEELE DES STADTMENSCHEN
Barrie Kosky ist Intendant und Chefregisseur der Komischen Oper Berlin. Am vergangenen Sonntag, 15.10.17, feierte er Premiere der Jubiläumsspielzeit mit Debussys "Pelléas et Mélisande" (zum aktuellen Programm). Im Gespräch mit Mazda Adli spricht er über den Wert von Kultur als Ressource der Stadt.

Herr Kosky, Sie sind Intendant und Chefregisseur der Komischen Oper Berlin. Ihre vorherigen Stationen waren Wien, Melbourne, Sydney – alles große Städte. Sind Sie ein Stadtmensch?

Ja. Man könnte sogar sagen, ich bin das Paradebeispiel für einen Stadtmenschen – obwohl ich meine Kindheit in Australien verbracht habe und alle denken, dass Australien gleichzusetzen sei mit Wasser, Strand und weiten Landschaften. Letztlich wohnt allerdings der Großteil der Australier in Städten. Und meine Großmutter ist in Budapest geboren, meine Mutter in London. Als ich in Melbourne gewohnt habe, hatte die Stadt zwischen drei und dreieinhalb Millionen Einwohner. Der Rhythmus, die Energie und die Vielfältigkeit der Stadt sind in meinem Blut und Teil meines künstlerischen Lebens. Ich will damit nicht sagen, dass ich kein Naturgenießer bin. Aber ich mag es, in der Stadt auf die Straße zu gehen und diese Energie, die Geräusche und Gerüche und all diese unterschiedlichen Elemente zu spüren.

Geht Ihnen das Stadtleben auch manchmal auf die Nerven?

Ja, deswegen geht man ja am Wochenende in ein Spa-Hotel oder im Wald spazieren. Und doch habe ich immer in Städten gewohnt. Ich bin jemand, der die Wohnungstür zumachen und damit auch die Stadt verlassen kann – auch in meinem Kopf.

Oper ist eigentlich eine Großstadtdisziplin. Im Vergleich zu Sprechbühnen finden wir Opern vorwiegend in größeren Städten. Wie lässt sich die Aufgabe von Oper für das Leben in der Großstadt beschreiben?

Oper ist in den italienischen Stadtstaaten entstanden und hat sich in den großen Städten Europas – verbunden mit dem Gedanken der Nationalität – weiterentwickelt. Die Geschichte europäischer Städte in den letzten fünfhundert Jahren verläuft parallel zu derjenigen der Oper. Je größer die Stadt, desto größer das Opernhaus. Je größer das Opernhaus, desto größer und lauter und länger die Oper.

Oper reflektiert also Stadtgeschichte und die Geschichte der Menschen, die in den Städten wohnen?

Ja, es gibt viele Opern, in denen dieser Gegensatz zwischen Land und Stadt verhandelt wird. Der erste Akt spielt auf dem Land, wo alles harmonisch ist. Im zweiten Akt geht die Diva in die Stadt, wo alles schiefgeht. Und schließlich kehrt sie zurück aufs Land. Das Land ist ein Zufluchtsort. Nehmen wir zum Beispiel »La Traviata«, zweiter Akt, weg von Paris und raus aufs Land, wo Ehrlichkeit herrscht. Auch im 20. Jahrhundert ist die Stadt der Motor, wenn man an Werke von Prokofjew, Schostakowitsch oder Alban Berg denkt. Diese Opern konnten nur in der Stadt geschrieben werden.

Kultur ist ja eine wichtige Ressource für das Wohlbefinden der Stadtbewohner. Allerdings gilt Oper als eine elitäre Disziplin. In der Komischen Oper schaffen Sie es jedoch, ein ungewöhnlich breites Publikum anzuziehen. Wie gelingt das?

Wir haben ein sehr breites Repertoire. Es hilft zum Beispiel, dass wir große Kinderopern, aber auch Operette und Musicals spielen. Musicals ziehen ein ganz anderes Publikum ins Haus als Opern. Und die Operette ist in den letzten Jahren hipper geworden, mit Omas furchtbaren Schallplatten aus den 50er-Jahren hat das nicht mehr viel zu tun. In vielen Opernhäusern liegt das Durchschnittsalter des Publikums bei über sechzig, bei uns fast unter fünfzig. Das ist sehr gut. In Deutschland haben wir ein Subventionssystem, das es sonst nur noch in Russland und Frankreich gibt. Es erlaubt uns, den Kartenpreis niedrig zu halten. Man kann für 12 oder 15 Euro in die Oper gehen – das ist günstiger als ein Rockkonzert. In Madrid zum Beispiel zahlt man 300 bis 400 Euro für eine Karte im Parkett. Das ist elitär. Das deutsche System erlaubt es, nicht elitär zu sein. Von der Idee wegzukommen, dass unser Zuschauer zwangsläufig gebildet sein muss, und stattdessen andere potenzielle Zuschauerschichten anzusprechen, bleibt allerdings eine große Herausforderung. Sie werden überrascht sein, wenn Sie sich einen Abend bei uns anschauen: Wie sieht der soziale Hintergrund der 1200 Besucher an einem solchen Abend aus? Es gehen nicht nur gutbürgerliche Menschen in die Oper. Die Architektur eines Opernhauses spiegelt natürlich auf eine gewisse Weise die Klassenunterschiede wider: Das Publikum verteilt sich auf Parkett, Loge und Rang. Aber gerade deshalb ist es so wichtig, Studierende, Kinder und Schüler anzusprechen. Wenn wir junge Menschen nicht damit infizieren, haben wir als Theater keine Zukunft.

Wie schaffen Sie es, ein so breites Publikum in der Komischen Oper anzusprechen? Liegt es daran, dass Sie die Zuschauer in besonderer Weise emotional beteiligen? Sie nehmen das Schwülstige aus der Oper raus und stellen das Emotionale in den Vordergrund. Ist das ein Teil Ihres Erfolges?

Ja. Für mich ist Musik gleich Emotion. Wir machen Geschichten über Liebe, Tod und Eifersucht. Auch die abstrakten Stücke sind voll davon. In der Nachkriegszeit gehörte es zum guten Ton bei Musik- und Thea- terschaffenden, das Emotionale rauszuhalten. Gefühle galten als billig, ihnen konnte man anscheinend nicht vertrauen. Stattdessen sollte man denken, denken, denken. Natürlich muss Kunst auch zum Denken anregen, aber in der Oper bildet die Emotion die Straße zum Denken, und nicht umgekehrt. Man sitzt nicht in einer Wagner- oder Mozart-Oper oder in einem Symphoniekonzert, um als Erstes zu grübeln und nachzudenken, sondern um zuerst einmal zu fühlen, und dann kommt der Widerhall des Gedankens, das kognitive Echo. Meine Aufgabe ist es, den elektrischen Strom zwischen Darsteller und Zuschauer herzustellen.

Oper ist gut für die Seele und damit auch gut für unser Gehirn. Übernehmen Oper und Bühnenkunst nicht eigentlich eine wichtige Funktion für die Gesundheit, einen Public-Health-Auftrag?

Für den Künstler hat seine Arbeit nichts mit Gesundheit zu tun.

Aber für die Stadtbewohner, für die Zuschauer?

Ich stelle immer wieder fest, dass sich die Reaktionen der Zuschauer nach einem guten Abend ähneln. Die Menschen lächeln, als hätten sie eine Operntablette genommen. Ich möchte, dass sich die Menschen nach der Opernerfahrung besser fühlen als vorher. Das gilt für »Eugen Onegin«, aber auch für eine Operette oder ein Musical.

Schon allein das reicht ja eigentlich als Argument, um die Kultur unter dem Gesichtspunkt ihres Wertes für die Gesundheit zu sehen – nämlich weil sie bei vielen Menschen positive Emotionen weckt. Und das hilft Krankheiten zu verhindern oder sie abzuschwächen.

Genau. Wir sollten eigentlich von den Krankenkassen Geld bekommen.

Wir wissen, dass das Aufwachsen in der Stadt Spuren im Gehirn hinterlässt und unter bestimmten Bedingungen auch gesundheitsrelevant sein kann. Andererseits ist der kulturelle Reichtum einer Stadt eine wichtige Ressource für Kinder. Wie kann man Kinder für Oper begeistern?

Erstens: Großformat. Ich finde es wenig überzeugend, Kinderopern in einem kleinen Raum zu machen. Kleine Kinder, kleiner Raum. Nein, eine große Bühne, ein Orchestergraben, Sänger, Chor und im Zuschauerraum tausend Kinder! Wenn die Eltern nicht da sind, schreien sie wie verrückt. Ich mag das sehr. Man sieht dann, dass ein Opernbesuch für sie ein besonderes Erlebnis ist. Zweitens: Die Musik kann durchaus komplex sein und darf die Kinder auch herausfordern. Denn Kinder sind offen für ungewöhnliche Klangwelten. Drittens: das Visuelle. In Kombination mit der Musik müssen Traumwelten auf der Bühne entstehen, die zu einer besonderen sinnlichen Erfahrung führen. Und viertens: die Verbindung zwischen Bühne und Zuschauer. In unseren Kinderopern kommunizieren Darsteller und Zuschauer miteinander, die Sänger stellen Fragen, und die Kinder schreien zurück. Die unsichtbare vierte Wand, die normalerweise im Theater zwischen Bühne und Zuschauerraum besteht, muss in Kinderopern durchbrochen werden.

Waren Sie als Kind auch in der Oper?

Ich war zum ersten Mal mit meinen Eltern im Theater, als ich drei oder vier Jahre alt war. Mit sieben bin ich das erste Mal mit meiner ungarischen Großmutter in die Oper gegangen. Sie hat mich in Melbourne zu »Madame Butterfly« mitgenommen. Meine Großmutter hat sich als mein künstlerischer Mentor verstanden. Von sieben bis achtzehn, als ich die Schule verließ, habe ich über zweihundert Opern gesehen.

In welcher Stadt fühlen Sie sich ganz besonders wohl?

Berlin. Nicht nur, weil ich jetzt hier wohne. Es gibt viele Städte, die ich sehr mag. Ich liebe London, obwohl ich da nie leben wollte. Paris und Rom sind ebenfalls wunderbare Städte, aber Berlin hat für mich die richtigen Qualitäten, um hier gut leben und arbeiten zu können. Die richtige Größe, nicht zu groß, nicht zu klein, über drei Millionen Einwohner, das ist wichtig. Die Stadt hat eine unglaubliche kulturelle Vielfalt und Internationalität. Berlin weist eine große kulturelle und gesellschaftliche Heterogenität auf, eben keine Einheitlichkeit. Homogene Städte interessieren mich nicht.

… sondern Städte mit einem hohen Maß an Diversität?

Genau. Also nicht nur als politischer Slogan, sondern als eine alltägliche Sache. Die Menschen unterscheiden sich in der Sprache, im Geschmack, in den Lebensweisen und sind gerade dadurch – durch diesen diversen Geist Berlins – miteinander verbunden. Etwas in Berlin ist sehr offen. Das hat mit der Geschichte der Stadt zu tun, aber auch mit der geografischen Lage. Ich liebe auch die wunderbar langen, großen Straßen. Man hat hier Raum. Berlin vereint alle möglichen Vorteile anderer Städte, ein bisschen von diesem, ein bisschen von jenem. Es fehlt nur ein Strand.

Sie leben seit fast zehn Jahren in der Stadt. Verraten Sie uns Ihren Lieblingsort?

Im Moment ist mein Lieblingsort die Komische Oper Berlin, das muss man als Intendant sagen. Aber es gibt natürlich auch noch ein paar andere Ecken. Ich mag auch den Tiergarten sehr – insbesondere im Herbst und Frühling. Mich fasziniert an Berlin die Fülle der fragmentarischen Energie, eigentlich entdeckt man jeden Tag etwas Neues. Ich liebe auch Schöneberg, da es die richtige Mischung hat. Dort leben nicht nur Künstler, nicht nur Hipster, und nicht alle Kieze sind gentrifiziert. In meiner Straße unterscheiden sich die Bewohner zum Beispiel hinsichtlich des kulturellen, aber auch des finanziellen Hintergrunds sehr. Auch die Geschichte von Schöneberg fasziniert mich, weil es ein wichtiger bürgerlicher jüdischer Teil der Stadt in den 20er- und 30er-Jahren gewesen ist. Ich fühle mich in Schöneberg sehr zu Hause.

Zur Person:

Barrie Kosky stammt aus Melbourne, wo er Musik und Theater studierte. Er inszenierte unter anderem an den Staatsopern von Berlin, München und Wien, an der Los Angeles Opera, am Royal Opera House, Covent Garden, in London sowie beim Glyndebourne Festival. Im Sommer 2017 hatte er sein Debüt bei den Bayreuther Festspielen.