Station 2 | Schwerpunkt

(Komplexe) Traumafolgestörungen und chronische Depression

Station 2 bietet für Patienten mit Stressfolgeerkrankungen spezialisierte Behandlungsangebote. Die Station hat einen Schwerpunkt auf der Acceptance Commitment Therapie (ACT). Außerdem kommen Stressmanagementstrategien zum Einsatz. Traumafolgestörungen behandeln wir mit der Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) oder Imagery Rescripting and Reprocessing Therapy (IRRT).

Nachgefragt

Dr. Raffaela Blöink, Psychologin auf Station 2, im Gespräch über Großstadthektik und Traumata

Stress und traumatischer Stress

Stress and the City ist ein Kernthema der Fliedner Klinik Berlin – Raffaela Blöink erklärt, woher der Großstadt-Stress kommt, was Traumata sind und wie die Behandlungen auf Station 2 der Fliedner Tagesklinik auf Basis aktuellster Forschung aussehen können.

Frau Dr. Blöink, ist Stress eigentlich gesundheitsschädlich?

Nun, wie so oft: Es kommt darauf an. Stress meint ja zunächst die physische und psychische Reaktion des Menschen auf sich verändernde Umweltbedingungen. Damit wird es uns überhaupt erst möglich, uns in der Welt zu bewegen und uns an die Erfordernisse des Alltags anzupassen. Das ist keineswegs gesundheitsschädlich, sondern im Gegenteil überlebenswichtig. Wenn wir umgangssprachlich von Stress sprechen, meinen wir aber oft, dass es um ein Zuviel von Anforderungen geht. Im Fachjargon reden wir dann davon, dass die eigenen Kompetenzen nicht mehr ausreichen, um die Anforderungen des Alltags zu bewältigen. Insofern ist die Frage, ab wann Stress gesundheitsschädlich ist, immer individuell. Jemand, der alles mit einem sehr hohen Anspruch erledigt, empfindet dieselbe Aufgabe womöglich als "stressiger" als jemand, der "auch mal Fünfe gerade sein" lässt. Wenn die Belastungen dauerhaft die vorhandenen Ressourcen übersteigen, dann ist das in der Tat gesundheitsschädlich. In der Folge kann es zu ernsthaften psychischen Erkrankungen, z.B. zu Depressionen, kommen.

Wie unterscheidet sich traumatischer Stress von Alltagsstress, den wir Menschen in einer modernen Großstadt wie Berlin erleben?

In einer Großstadt sind wir neben den Belastungen durch unsere individuellen Aufgaben auch in verstärktem Maße sogenanntem Umweltstress ausgesetzt. Sobald man das Haus verlässt, ist man mit einer Vielzahl von Reizen konfrontiert: Die Straßen sind voller Menschen, Geräusche und Gerüche. Wie wir diesen Umweltstress erleben, hängt wiederum zu großen Teilen davon ab, ob wir uns freiwillig oder unfreiwillig hier aufhalten. Man weiß aus der Stressforschung, dass die Verarbeitung von Lärm, Gestank oder Fülle stark davon abhängt, ob wir ihn als kontrollierbar, als sinnvoll und notwendig bewerten: Menschenmengen auf dem UBahnhof werden die meisten anders erleben als die gleiche Anzahl von Menschen auf einem Konzert, das sie freiwillig besuchen oder auf der "Fanmeile". Selbst der Gestank einer Fabrik führte in kontrollierten Studien zu weniger Stresserleben, wenn ich in dieser Fabrik arbeite und meinen Lebensunterhalt dort sichere. Und umgekehrt kann auch ein Zuwenig an Umweltreizen Stress auslösen. Umweltreize ermöglichen ja in der Regel eine zeitliche und räumliche Orientierung. Im Extremfall wird die Abwesenheit solcher Reize, wir nennen das "Reizdeprivation", sogar als Foltermethode eingesetzt. Etwas weniger dramatisch erleben viele Arbeitslose die vermeintliche Abwesenheit von Anforderungen keineswegs als angenehm, sondern sie fühlen sich unterfordert, ungebraucht oder wertlos. Es kommt also wie so oft auf das Maß an. Anders ist es, wenn wir von traumatischem Stress sprechen. Hier geht es um Extremereignisse, die eben gerade nicht zum Alltag gehören. Hierbei wird die Verarbeitungskapazität zumindest kurzfristig meist überschritten. Wir sprechen auch vom Schockzustand. Wie die langfristige Verarbeitung eines Traumas gelingt, ist dann aber wiederum von vielen Faktoren abhängig. Manche davon hängen direkt mit dem Trauma zusammen, andere haben etwas mit den bisherigen Erfahrungen und den vorhandenen Bewältigungsmöglichkeiten zu tun.

Der Traumabegriff ist neuerdings in aller Munde. Was ist aus Ihrer Sicht überhaupt ein Trauma?

In den offiziellen Diagnosekatalogen ist ein Trauma recht streng definiert: Wir reden dann von einem Trauma, wenn eine Person real oder potentiell in Leib und Leben gefährdet war, wenn sie ernsthafte Verletzungen erfahren oder bei anderen beobachtet hat und dies mit intensiver Furcht, Hilflosigkeit oder Schrecken erlebt hat. Häufig geht es dabei um einmalige Erlebnisse wie Unfälle, Gewalterlebnisse oder Naturkatastrophen. Traumata können aber auch wiederholt und regelmäßig auftreten wie z.B. der wiederholte sexuelle Missbrauch oder körperliche Misshandlungen in der Kindheit. Auch die massive Vernachlässigung oder psychische Gewalt in der Kindheit würde ich als Trauma bezeichnen. Davon abzugrenzen sind unangenehme Erlebnisse, wie z.B. "Mobbing" oder andauernde partnerschaftliche Konflikte. Sicherlich können diese auch das Wohlbefinden und die Gesundheit beeinträchtigen. Dennoch würde man solche Erlebnisse nicht als traumatisch einordnen, da dieser Begriff wirklich für außergewöhnliche Bedrohungen mit katastrophalem Ausmaß reserviert ist.

Bietet Berlin traumatischere Bedingungen als andere Orte?

Wenn man von den einzelnen Ereignissen ausgeht, dann ist die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden, in Großstädten vermutlich etwas höher. Auch mit Unfällen werde ich in einem städtischen Umfeld häufiger konfrontiert als auf dem Land. Dafür sind Unfälle auf den Landstraßen häufiger sehr schwer und damit auch traumatischer. Hinsichtlich der langfristig wirkenden Traumatisierungen, die meist im kindlichen Alter geschehen, gibt es keine Unterschiede zwischen Stadt- und Landbevölkerung. Gerade sexueller Missbrauch ist nicht an bestimmte Bevölkerungsschichten oder Wohnumwelten geknüpft, sondern kommt leider in den sogenannten "besten Familien" vor.

Was sollte ich tun, wenn ich die Gedanken an einen frisch erlebten Autounfall nicht mehr loswerde?

Zunächst einmal ist es völlig normal, dass ein solches Erlebnis uns nicht sofort loslässt. Das sollte man sich auch selbst zugestehen. Vielen Menschen hilft es dann, anderen Menschen von ihrem Erleben zu erzählen und soziale Unterstützung zu erfahren. Wenn ich aber bemerke, dass die Erinnerungen mich gar nicht loslassen, dass ich unvermittelt oder durch bestimmte Reize ausgelöst (z.B. Blaulicht oder Martinshorn) von plötzlichen und sehr lebendigen Erinnerungsbildern quasi überflutet werde; wenn ich merke, dass ich bestimmte Handlungen (z.B. das Autofahren) oder Orte (z.B. die Unfallstelle) vermeide; wenn ich mich entweder abgestumpft oder aber extrem schreckhaft erlebe, dann kann es hilfreich sein, sich professionelle Unterstützung zu holen. In diesem Fall ist der Weg zum Psychotherapeuten angeraten, denn hier kann ich mich im geschützten Rahmen mit diesen Phänomenen auseinandersetzen und das Erlebte so weit verarbeiten, dass ich es als ein Erlebnis in meine Lebensgeschichte einordnen kann. Gerade wenn der Unfall schon ein paar Wochen her ist, kommen aus dem direkten Umfeld ja oft gut gemeinte Ratschläge der Art "Das Leben muss weitergehen. Lass es doch einfach hinter dir." Das stimmt zwar einerseits, ist aber wenig hilfreich. Im Gegenteil führt es oft noch zu zusätzlichen Schuldgefühlen, genau dies nicht zu können. Außerdem wollen viele ihre Familie und Freunde nicht immer wieder mit demselben Thema belasten. Schon deshalb kann es hilfreich sein, sich professionelle Unterstützung zu organisieren. Außerdem hat der Psychotherapeut natürlich auch effektivere Methoden in petto als der wohlmeinende, aber vielleicht überforderte Freund.

Was ist Ihnen persönlich in der Behandlung von Patienten mit der PTSD wichtig?

Generell gilt für die Behandlung von Menschen, die ein Trauma erlitten haben, in ganz besonderem Maße das, was eigentlich für alle Patienten gilt: Das Leiden muss ernst genommen werden. Das bedeutet: nicht vorschnell beschwichtigen oder gar bagatellisieren. Andererseits sollte man als TherapeutIn auch deutlich signalisieren, dass man bereit ist, sich die Geschichte anzuhören, dass man es aushält und mitfühlt, ohne von den Emotionen weggespült zu werden. Einen festen Halt geben nach einer oft zentralen Erschütterung. Sicherlich gibt es auch Unterschiede, je nach Art und Zeitpunkt des Traumas: Jemand, der im Erwachsenenalter und bei ansonsten stabilen und positiven Lebensbedingungen die Folgen eines Unfalls verarbeiten muss, hat meist andere Ressourcen ausbilden können als jemand, der schon im frühen Kindesalter misshandelt und missbraucht wurde und kaum die Chance hatte, ein stabiles Selbst aufzubauen. Bei ersterem geht es darum, der betreffenden Person zu erklären, dass ihre Reaktion grundsätzlich eine normale Reaktion auf ein unnormales Ereignis ist. Man kann relativ schnell beginnen, in die Verarbeitung des Unfalls einzusteigen. Dazu gehört dann die Konfrontation mit den Erinnerungsbildern ebenso wie mit den vermiedenen bzw. angstauslösenden Orten und Situationen. Bei Menschen mit langfristigen und frühen Traumatisierungen ist es meist die erste und schwierigste Aufgabe, überhaupt einmal eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen. Diese Menschen haben gelernt, dass es gefährlich ist, anderen zu vertrauen. Sie haben gelernt, dass es nichts bringt, dass niemand reagiert, wenn sie ihre Geschichte erzählen. Sie sind voller Scham über das Erlebte und geben sich nicht selten selbst die Schuld für das Geschehene. Viele können über das Erlebte daher zunächst kaum sprechen. Hier finde ich es wichtig, Geduld zu haben, Vertrauen zu vermitteln und so nach und nach dem Betroffenen ermöglichen zu reden und sich mitzuteilen.

Sie sind Expertin für IRRT: Wie beurteilen Sie persönlich die Erfolge dieser Methode?

IRRT steht für Imagery Rescripting and Reprocessing* und wurde speziell für die Behandlung von Menschen entwickelt, die in der Kindheit sexuell missbraucht wurden. In dieser Methode arbeitet man mit Imaginationen der frühen Erlebnisse, die dann in einem weiteren Schritt quasi ‚umgeschrieben‘ werden. Das heißt, man hilft dem Patienten dabei, neue Bilder zu entwickeln, die traumatischen Erinnerungsbilder werden überschrieben durch Bilder der Stärke sowie der Selbstfürsorge. Die Methode geht damit über die generell übliche Konfrontation mit dem Geschehen hinaus. Diese hat sich zwar auch als sehr wirksam erwiesen, hilft aber vor allem bei der Bearbeitung der Angst. Menschen, die sexuelle Übergriffe erlebt haben, erleben jedoch oft nicht nur Angst, sondern vor allem Scham und Ohnmacht. Diese Emotionen reagieren nur schlecht auf klassische Konfrontationsverfahren. IRRT hilft nun genau an dieser Stelle, wie sich auch in kontrollierten Studien herausgestellt hat. Ebenso ist ein Ergebnis kontrollierter Studien, dass die Methode sowohl von Patienten als auch von Therapeuten gut akzeptiert wird. Das heißt, dass Patienten die Therapie viel seltener abbrechen bzw. sich wohl mit diesem Vorgehen fühlen. Aus meiner persönlichen Erfahrung kann ich dies nur bestätigen. Die Imaginationsarbeit ist zwar emotional sehr aufwühlend für den Patienten und auch für den Therapeuten – aber das ist Traumaexposition eigentlich immer – fast immer erleben die Patienten aber im Anschluss ein Gefühl der Erleichterung und Entlastung. Darüber hinaus kann man dieses Verfahren nicht nur bei sexuell traumatisierten Menschen einsetzen, sondern überall da, wo es um die Verarbeitung belastender Bilder – nicht nur traumatischer im engeren Sinne – oder die Steigerung von Selbstfürsorge und Selbstzuwendung geht. In der Imagination erleben die Patienten einen neuen Umgang mit sich selbst; das ist wesentlich effektiver, als ausschließlich darüber zu reden.

Gibt es Ihrer Meinung nach gute Möglichkeiten, sich präventiv vor traumatischem Stress zu schützen?

Mal abgesehen davon, dass es Berufe gibt, die per se mit einem erhöhten Risiko für Traumatisierungen einhergehen, denken Sie an Feuerwehrleute, Rettungssanitäter, Polizisten, Helfer in Krisengebieten, dann ist das Wesen eines Traumas ja gerade durch seine Unvorhersehbarkeit gekennzeichnet. Wir alle können uns nicht gezielt vor Naturkatastrophen, Unfällen oder Verbrechen schützen. Oder besser: wir versuchen uns natürlich zu schützen, indem wir die Verkehrsregeln beachten, die Haustür mit einem Sicherheitsschloss verriegeln oder nachts bestimmte Gegenden vermeiden. Ausschließen können wir das Risiko jedoch nicht, nur minimieren. Und natürlich stellt sich auch die Frage, ab wann das Streben nach Sicherheit wiederum die Lebensqualität einschränkt. Wir können also nicht ausschließen, ein Trauma zu erleben. Hinsichtlich der Verarbeitung wissen wir aber, dass die Chancen, ein Trauma gut zu verarbeiten, steigen, wenn wir schon im Vorfeld gelernt haben, gut mit uns umzugehen. Ein gutes soziales Netz ist eine wichtige Ressource im Umgang mit Stress jeglicher Art. Sich selbst annehmen und schätzen und ein erfülltes Leben zu führen hilft uns bei der Verarbeitung der täglichen Belastungen und ist auch hilfreich nach traumatischem Stress. Insofern ist ein ausgeglichenes, erfülltes Leben quasi auch eine Präventivmaßnahme im Hinblick auf traumatischen Stress.


* Siehe etwa: - Mervyn Schmucker & Rolf Köster (2014). Praxishandbuch IRRT – Imagery Rescripting & Reprocessing Therapy bei Traumafolgestörungen, Angst, Depression und Trauer. Klett-Cotta. - Arntz A., Tiesema, M., Kind, M. (2007). Treatment of PTSD: A comparison of imaginal exposure with and without imagery rescripting. J Behav Ther Exp Psychiatry, 38: 345-370.

Zur Person

Frau Dr. rer.biol.hum. Raffaela Blöink ist Psychologische Psychotherapeutin und langjährige Mitarbeiterin der Fliedner Klinik Berlin. Auf der Station für Trauma- und Stressfolgestörungen ist sie spezialisiert auf die Behandlung von Patienten, die an der Posttraumatic Stress Disorder (PTSD) bzw. einer Posttraumatischen Belastungsstörung leiden. In Paris absolvierte sie ein Zusatzstudium im Bereich Umweltpsychologie, in welchem sie sich u.a. mit der Wirkung von Umwelteinflüssen auf das Erleben und Verhalten des Menschen auseinandersetzte. Frau Blöink war Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universitätsklinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und beschäftigte sich wissenschaftlich vor allem mit dem Langzeitverlauf affektiver, schizoaffektiver und psychotischer Störungen. Sie promovierte im Rahmen der Überprüfung und Normierung des WIE Intelligenztests. Parallel arbeitete sie auch schon in Halle im stationären und ambulanten Bereich psychotherapeutisch und entwickelte dort ihren Schwerpunkt im Bereich der Behandlung von Traumafolgestörungen.